Andrea Tholl

Journalistin

° Robert Wilson: Vernarrt in den Tatort

| Keine Kommentare

Foto © Andrea Tholl

Foto © Andrea Tholl

Er verwandelt Sevilla in eine Stadt des Verbrechens: Der Brite Robert Wilson gehört mit seinen Spanien-Krimis zu den Meistern des Genres. Andrea Tholl traf ihn am Tatort seiner Phantasie.

Vor der Markthalle bleibt Robert Wilson plötzlich stehen. „Von hier konnte man die Bombe hören, definitiv“, sagt er und zeigt nach Norden. „El Cerezo liegt nur ein paar Kilometer entfernt hinter der alten Stadtmauer.“ Er schweigt einen Moment. „Das war die größte Katastrophe in Falcóns Laufbahn. Ein Dutzend Tote und 400 Verletzte.“ Der Bombenanschlag, von dem Wilson spricht, versetzt Sevillas Einwohner in Panik, sie sehen sich als neue Zielscheibe islamistischen Terrors.

Zum Glück ist das alles nur Fiktion. Explodiert ist die Bombe in „Die Maske des Bösen“, dem neuen Krimi des gefeierten britischen Autors Robert Wilson. Chefinspektor Javier Falcón ist als Wilsons Hauptfigur nun zum dritten Mal im Einsatz. Die Hauptrolle muss sich der Polizist allerdings teilen: mit Sevilla, der Stadt, die Wilson liebt wie keine zweite.

1984 kam der Autor zum ersten Mal in die andalusische Metropole und verliebte sich auf Anhieb in sie. Inzwischen hat er sich nur vier Fahrstunden entfernt mit seiner Frau niedergelassen, in einem alten Bauerhaus mitten in der portugiesischen Provinz. „Dort habe ich beides: die Lebensfreude Sevillas in der Nähe und gleichzeitig die Ruhe Portugals“, sagt er. „So sind beide Seiten meiner Persönlichkeit zufrieden: Spanien ist offen, aggressiv und aufregend, Portugal dagegen melancholisch und ruhig. Fado und Flamenco, das Beste aus zwei Welten.“

Topografie des Verbrechens

Vor seinem Umzug nach Portugal studierte Wilson in Oxford englische Sprache und Literatur und schlug sich viele Jahre mit ebenso vielen Jobs durchs Leben. Schreiben wollte er eigentlich schon seit der Schulzeit, mit 38 veröffentlichte er seinen ersten Roman. „Damit war ich zumindest sechs Jahre jünger als Raymond Chandler„, sagt er.

Mit Robert Wilson über die bunten Plätze und durch die dunklen Gassen Sevillas zu schlendern, ist ein bisschen, als besichtige man mit einem Verbrecher die Schauplätze seiner Taten. Die erste Station ist La Macarena, ein alter Arbeiterstadtteil Sevillas, der anderthalb Kilometer vom Touristenzentrum entfernt liegt.

„Hier spielt das wahre Leben, und genau hier hört der sevillanische Vergnügungspark auf.“ Wilsons Kriminalromane spielen in solchen Kulissen, sie beschäftigen sich mit Verbrechen aus der jüngeren Vergangenheit. Nazigold, Wolframschmuggel, die Gräueltaten des Franco- und des Pinochet-Regimes, und jetzt, ganz aktuell und hochbrisant: Terrorismus in Europa.

maske_des_boesen

Die Bombe explodiert in Wilsons neuem Buch in einem Wohnblock in Sevillas nördlichem Stadtteil El Cerezo. In dem Gebäude befindet sich eine Moschee, ihr Imam steht in der Datei der Terrorverdächtigen, so dass Polizei und Geheimdienste schnell einen terroristischen Anschlag vermuten. Nur Inspektor Falcón ist nicht überzeugt und glaubt an einen Zusammenhang mit einem verstümmelten Toten, der auf einer Mülldeponie gefunden wurde. Zu seinen Kollegen sagt er: „Wir dürfen uns in unserer Ermittlung nicht von Vorurteilen leiten lassen. Wir müssen uns die Tatsachen ansehen.“

Blick hinter die Kulissen

Der Unterschied zwischen Schein und Sein ist auch Wilsons schriftstellerisches Leitmotiv. Ihm sei wichtig, hinter die Kulissen zu schauen, sagt er, gerade in einer Stadt wie Sevilla, die weltweit für Ihre Lebensfreude, die Alegría, und den heißblütigen Flamenco bekannt ist. Als der Tote in „Die Maske des Bösen“ identifiziert wird, bestätigt sich Falcóns Verdacht. Und die Ermittlungen führen geradewegs in die Abgründe menschlicher Machtbesessenheit.

Komplexe Themen, kombiniert mit exzellentem Stil, haben Wilson zu einem Meister des literarischen Krimis gemacht; die „New York Times“ lobte ihn als einen „der besten Thrillerautoren der Welt“. In seinem neuesten Werk greift Wilson neben Javier Falcón auf bewährtes Personal zurück: den Staatsanwalt Calderón, Falcóns Ex-Freundin Consuelo und seine Ex-Frau Inés. Der Schriftsteller schickt sie auf einen Leidensweg der Enttäuschung und Gewalt; es wird betrogen, geschlagen und erniedrigt. Falcón kommt dieses Mal vergleichsweise glimpflich davon. Das war nicht immer so. In den beiden Vorgängerromanen war der Endvierziger Falcón derjenige, der zusammenbrach und wegen einer schwer gestörten Vater-Sohn-Beziehung in Therapie musste.

Seine Schauplätze findet Wilson, wenn er durch die Gegend streift. Von den wichtigen Orten macht er Fotos. Beim Schreiben müsse später allerdings nicht jedes Detail stimmen, die Wirklichkeit gebe nur Anregungen. Wichtiger sei ihm die Exaktheit der historischen Details. „Wenn man die Realität kennt, kann man nicht mehr das schreiben, was man will“, erklärt der Schriftsteller sein Verfahren. „Man kommt sich sonst wie ein Lügner vor.“

Delikate Vergnügen

Am frühen Mittag steuert Wilson zielstrebig seinen Lieblingsplatz an, die Plaza San Lorenzo. Es ist die Zeit der Tapas, der kleinen Köstlichkeiten für zwischendurch, für die Sevilla so berühmt ist. Auch in Wilsons Romanen verspeisen die Figuren gern mal eine Portion davon, allen voran Falcón. Hinter einer Kirche liegt das Casa Ricardo, in dem sich der Inspector Jefe oft mit Consuelo trifft.

Es ist ein besonderer Ort, auch für Robert Wilson. Die Wände der kleinen Bar sind von oben bis unten gepflastert mit Bildern aus der Semana Santa, der Heiligen Woche um Ostern. Büßer, maskiert wie Ku-Klux-Klan-Mitglieder, blutüberströmte Christus- und mild lächelnde Mariafiguren blicken von den Wänden herab. Wilson trinkt eine „Cervecita“, ein kleines Bier, und beißt in den Spieß nach Art des Hauses.

Vielleicht ist es dieser Ort, an dem sich Robert Wilson und seine Hauptfigur Javier Falcón am nächsten sind. Hier finden beide nach den Strapazen eines langen Arbeitstages ihren Frieden in einer Atmosphäre, die nur Sevilla bieten kann.

Veröffentlicht bei SPIEGEL ONLINE

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.